Die Unabhängigkeit Polens am 11. November 1918 war nach rd. 130 Jahren staatlicher Nichtexistenz lang ersehnt, kam dann aber doch plötzlich. Mit einer eigenen Postverwaltung konnte das Land, in dem bis dahin drei Großmächte mit unterschiedlichen postalischen Strukturen und Posttarifen, Währungen und Sprachen regiert hatten, nicht dienen. Eigene Postwertzeichen fehlten. Doch man wusste sich zu helfen: die bisher gültigen Marken wurden durch einen lokalen Überdruck „polonisiert“. Sie waren damit Ausdruck des erwachten Nationalstolzes, und gleichzeitig konnte der Postbetrieb weitergehen. Lange waren die lokalen Überdruckmarken auf den Ausgaben der vormaligen Besatzer allerdings nicht in Umlauf: nach 34 Tagen verloren sie in den ehemals deutschen Gebieten und fünf Wochen später auch in den österreichischen ihre Gültigkeit. Die bei Herstellung dem Sofortbedarf angepassten Lokalausgaben hatten so geringe Auflagen, dass sich die Wünsche der Sammler kaum befriedigen ließen. Eine willkommene Einladung an Spekulanten und Fälscher: mit eigenen Markenvorräten gingen sie auf Reisen und ließen sich vor Ort „Kostbarkeiten“ produzieren. Als Ergebnis sind rd. 90 % der lokalen Ausgaben Fälschungen und eine Prüfung heute unerlässlich – eine Aufgabe, die „an das Betreten eines Minenfeldes“ erinnert. Erschwerend kommt das Fehlen von Vergleichsmaterial hinzu. Briefe zu sammeln war man nicht gewohnt, und so wurden bedarfsverwendete Originalbelege um der Marken willen zerschnitten. Die wenigen wertvollen Sammlungen in den Händen Warschauer Sammler gingen in den Aufständen von 1943 und 1944 für immer verloren.

Die Schwierigkeiten schreckten die Autoren, beide Fellow bzw. Mitglied der RPSL, nicht. Sie stellten sich der Herausforderung, die Spreu vom Weizen zu trennen und bringen beste Voraussetzungen mit: Auleytner, ein führender Philatelist Polens mit vielen nationalen und internationalen Funktionen, konzentriert seit Jahren sein postgeschichtliches Interesse auf den Zeitabschnitt 1917–20, und Petriuk, Autor von über 400 Artikeln und einem Dutzend Büchern zur polnischen Philatelie und Postgeschichte, ist Prüfer im polnischen Verband PZF. Die beiden sichteten alle erreichbare Literatur – die Bibliographie listet über 70 polnische und deutsche Titel – studierten die damalige Postordnung, Amtsblätter, Tarife, werteten zeitgenössische Presseberichte, Briefe und Erinnerungen aus. Vor allem stützten sie sich auf das wenige zweifelsfrei echte Material wie Wertbriefe, Postanweisungen oder Paketkarten. Sie hatten Zugang zum schriftlichen Nachlass des verstorbenen Verbandsprüfers Jungjohann und dem Archiv von Lesław Schmutz, fanden nützliche Scans im Internet und bekamen unterstützend Bildmaterial von einer Reihe von Spezialisten in Deutschland und Polen.

Den historischen Hintergrund der Lokalausgaben und den derzeitigen Forschungsstand umreißt die informative Einleitung. In alphabetischer Reihenfolge schließen sich Abschnitte zu den einzelnen Postämtern an, eingeteilt nach Besatzungsgebieten. Das bei Weitem umfangreichste Kapitel ist dem Gen.-Gouv. Warschau gewidmet, gefolgt von dem vordem österreichischen Teschen Schlesien und Galizien und schließlich Kowel (Ex-Ukraine). Jeder „Steckbrief“ enthält neben relevanten Fakten und Daten eine klare Aussage zum amtlichen bzw. spekulativen Charakter der Ausgabe und wo nötig eine ausführliche kontroverse Diskussion wie etwa bei den Marken des Postamts Skierniewice oder Bielsko. Erstmals aufgenommen sind auch einige bisher unbekannte Ausgaben.

Das Buch mit ansprechend gestaltetem festem Einband hat die Texte durchgängig in Polnisch und Deutsch, farblich dezent gegeneinander abgesetzt, bei vorangestellter Zusammenfassung in Englisch. Vorzügliche dank des hochqualitativen Kreidepapiers die Wiedergabe der Landkarten, Dokumente und äußert seltenen ca. 300 Belege. – Eine kleine kritische Anmerkung sei gestattet: Bei einer möglichen Neuauflage würde hier und da eine sprachliche Überarbeitung der deutschen Fassung nicht schaden.

Handbuch, Katalog und Album in einem wird dieser Band auf lange Zeit das Standardwerk für das Sammelgebiet sein, das in keiner Fachbibliothek fehlen sollte. Es ist nicht nur für Polensammler, sondern vielleicht noch mehr für Germania-Spezialisten interessant, denn den wenigsten von ihnen dürften die polnischen Lokalmarken vertraut sein. Bei dem moderaten Preis wird eine schnelle Bestellung empfohlen, bevor die kleine Auflage von 150 Exemplaren vergriffen ist.

Rainer von Scharpen, AIJP

. 371 S., 24,5 x 17,5 cm, Kreidepapier, Abb. farbig, Hardcover. Warschau/Langballighaus 2020. Preis: 25 € + Versandkosten. ISBN 978-83-942533-1-8. Bezug: Stefan Petriuk, Neue Gasse 3, 24977 Langballigholz. E-Mail: Petriuk@t-online.de. IBAN: DE21 2176 3542 0016 0944 90

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